Die Heuristische Evaluation und die mit der Barrierefreiheit verbundenen Heuristiken können ein wichtiges Instrument bei der Barrierefreiheitsprüfung und Begutachtung von verschiedensten Fachanwendungen sein. Sowohl bei öffentlichen Webseiten (beispielsweise im Kontext des OZGÄndG) als auch bei internen Softwarelösungen (im Sinne der Employee Experience).
Doch wie kann eine heuristische Prüfung der Barrierefreiheit konkret umgesetzt werden? Welche Probleme oder Fragen können bei der Evaluation auftreten? Dieser Artikel gibt Ihnen 7 Tipps mit auf den Weg, um Sie für den Prüfungsprozess zu wappnen.
#1 Sichten Sie notwendige Prüfschritte
Die Kriterien der EN 301 549 gelten nach der EU Richtlinie 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu Webseiten und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen als EU-weiter Maßstab für die praktische Umsetzung von barrierefreien Zugängen [1]. Die EN 301 549 beschreibt mehrere Prüfschritte, um Webseiten und mobile Anwendungen auf die Grundsätze der barrierefreien Gestaltung zu überprüfen. Diese bilden daher auch die Grundlage für Ihre heuristische Prüfung.
Zu Beginn Ihrer Prüfung sollten Sie sich bewusst machen, welche Prüfschritte für Sie relevant sind. Prüfen Sie eine Webseite oder eine Software? Sind Autorenwerkzeuge vorhanden? Ist die Anwendung videofähig? Über diese und noch mehr Punkte sollten Sie sich im Klaren sein, bevor Sie Ihre Prüfung starten. Je nach Anwendung können nämlich unterschiedliche Schritte für Sie relevant sein. Es ergibt offensichtlich nur wenig Sinn zu prüfen, ob Untertitel für Videos angeboten werden, wenn in der Anwendung keine Videos enthalten sind.
Eine besondere Form der Barrierefreiheitsprüfung auf Basis von Erfolgskriterien bieten sogenannte Selbsttests. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der BITV Selbsttest. Dieser beruht auf den 98 Prüfschritten, die im BITV Test Anwendung finden [2], welcher sich wiederum auf die webrelevanten Prüfschritte der EN 301 549 und auf die WCAG 2.1 bezieht [3]. Er kann dementsprechend in dieser Form nur auf Webseiten angewendet werden. Der Selbsttest ermöglicht es beispielsweise Entwickler*innen in einem Fragebogenformat die eigene Fachanwendung auf Barrierefreiheitskriterien der BITV zu prüfen. Der Selbsttest kann dabei jedoch nach eigenen Aussagen keinen Expert*innentest ersetzen, da keine unabhängige Qualitätssicherung stattfinden kann und sollte daher nur zur internen Orientierung eingesetzt werden.
Es findet bei der Selbstbewertung – anders als beim BIK Expert[*inn]entest – keine unabhängige Qualitätssicherung statt. Ob die Ergebnisse der Selbstbewertung korrekt sind, hängt deshalb allein vom Wissenstand und der Sorgfalt der Person ab, die sie durchführt. Die Aussagekraft ist auch aus diesem Grund beschränkt.
BIK BITV-Test [2]
#2 Verstehen Sie die Hintergründe Ihrer Prüfung
Ein wichtiges Qualitätsmerkmal, das die BIK hier in Bezug auf die Selbsttests angesprochen hat, ist der Wissensstand des*der Prüfer*in. Das stumpfe Befolgen von Prüfschritten kann hier und da zu falschen Schlussfolgerungen führen, wenn die Hintergründe des Prüfschritts falsch verstanden wurden. Nicht immer ist es sofort offensichtlich, inwiefern ein bestimmtes Prüfverfahren mit einer Barrierefreiheitsfunktion im Zusammenhang steht. Wer jedoch weiß, auf welchen Grundlagen verschiedene assistierende Technologien beruhen, der versteht auch die Relevanz einzelner Prüfschritte und mit welchen technischen Voraussetzungen eine barrierefreie Nutzung möglich ist. Somit kann beispielsweise getestet werden, ob der Screenreader bei einer Anwendung funktioniert, ohne den Screenreader selbst zu bedienen. Für die heuristische Prüfung ist dies besonders relevant, da nicht mit möglichen Benutzer*innen oder konkreten Technologien getestet wird. Statt alle Screenreader (oder alle Webbrowser) untersuchen zu müssen, analysieren Expert*innen direkt die Struktur und den Aufbau der Softwareanwendung. Falsche Bewertungen, die aus einer falsch bzw. nicht authentisch durchgeführten Nutzung von assistierenden Technologien resultieren, können somit verhindert werden.
#3 Testen Sie mit unterschiedlichen Geräten und Browsern

Dennoch gilt: Je nach Betriebssystem oder Internet Browser kann die Funktionalität sowohl seitens der assistierenden Technologie, als auch seitens der zu testenden Anwendung variieren. Während also bestimmte Merkmale bei Ihnen während der Prüfung erfüllt zu sein scheinen, könnte der*die Endnutzer*in in einem anderen Umfeld auf Probleme stoßen. Um dies zu verhindern, ist es sinnvoll, bei Unklarheiten die heuristische Prüfung auf verschiedenen Geräten durchzuführen und bei der Prüfung von kritischen Aspekten die Webanwendung mit mehreren üblichen Browsern (insbesondere mit Safari, Chrome und Firefox) zu testen. Darüber hinaus variieren auch die Ausrichtung und die Skalierung je nach Gerätetyp. Es ist daher sinnvoll, neben den Desktop-Versionen einer Anwendung auch die Darstellung auf Tablets und Smartphones in die Bewertung miteinzubeziehen.
#4 Bestanden? Nicht bestanden? Teilweise bestanden?
Die Entscheidung, ob ein Prüfschritt erfüllt oder nicht erfüllt ist, gehört zu den elementaren Schritten einer heuristischen Prüfung. Leider scheint hierbei eine eindeutige Bezeichnung des Prüfergebnisses oft schwierig zu sein. Besonders eine Abgrenzung zwischen Bezeichnungen wie „eher nicht erfüllt”, „teilweise erfüllt” oder „eher erfüllt” ist in der Praxis häufig schwierig. Es stellt sich regelmäßig die Frage, welche Formulierung am besten geeignet ist, um die aktuelle Erfüllung eines bestimmten Kriteriums zu beschreiben. Dass die Wahl einer passenden Bezeichnung komplex sein kann, liegt daran, dass je nach Prüfschritt und Ergebnis unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen. So ist es beispielsweise relevant, wie zentral der Prüfschritt für die Prüfung der Anwendung ist und wie schwerwiegend die Folgen einer Nichterfüllung wären. Auch die Frage, wie häufig bestimmte Barrieren auftreten und welche weiteren Abläufe dadurch beeinträchtigt werden könnten, sollte in die Beurteilung miteinbezogen werden. Zudem kann es vorkommen, dass manche Kriterien nicht wie in der Norm beschrieben erfüllt wurden, jedoch innerhalb der Anwendung alternative Lösungen angeboten werden. Für eine umfassende Bewertung einer Anwendung sollten somit das Gesamtprodukt und die Zusammenhänge einzelner Aspekte immer im Blick bleiben.
Bei der Betrachtung all dieser Faktoren wird wieder deutlich, wie relevant die Kompetenz der Person ist, die die Prüfung durchführt und wie bedeutend das umfassende Hintergrundwissen eines*einer UUX-Expert*in für den Prozess sein kann. Nur bei einer differenzierten Einschätzung einzelner Probleme kann eine gelungene Beurteilung stattfinden. Die heuristische Bewertung konkreter Sachverhalte ist deutlich schwieriger als uns durch die breite Verfügbarkeit dieser Selbsttests suggeriert wird.
#5 Gestalten Sie Ihre Bewertung nachvollziehbar

Besonders wenn Schwachstellen und Barrieren einer Anwendung während der heuristischen Prüfung aufgedeckt werden, ist es wichtig, diese Erkenntnisse nachvollziehbar in einem Gutachten zu dokumentieren. Ein nachvollziehbares Gutachten erleichtert es allen Beteiligten, Probleme zu kommunizieren und auch noch in weiterführenden Schritten zu verstehen, welche Überarbeitungen notwendig sind. Das wichtigste Mittel zu einem nachvollziehbaren Gutachten sind aussagekräftige Beschreibungstexte. Mit ihnen können Probleme detailliert beschrieben und Vorgehensweisen in der Begutachtung erläutert werden. Eine gewisse Transparenz der Prüfungsmethoden kann im Nachhinein dabei helfen, Barrieren zu lokalisieren und zu erläutern, in welchen Szenarien sie auftreten. Ebenso können dabei visuelle Einblicke eine große Hilfe sein. Auftretende Probleme sollten stets direkt in Screenshots festgehalten werden. Diese sind in der Regel aussagekräftiger als rein schriftliche Beschreibungen. Um Ihr Gutachten weiterhin übersichtlich zu halten, bietet es sich jedoch an, sich auf ein bis drei Screenshots pro Prüfschritt zu begrenzen, in denen die grundlegenden Probleme dargestellt werden.
#6 Das wichtigste zum Schluss: Eine gelungene Auswertung
Nachdem Sie also die einzelnen Prüfschritte bewertet und nachvollziehbar dokumentiert haben, ist es nun an der Zeit, die erhobenen Ergebnisse auszuwerten und Schlussfolgerungen für weitere Schritte zu ziehen. Um bei der Masse an Prüfergebnissen jedoch nicht den Überblick zu verlieren, ist ein systematisches Vorgehen notwendig. Hierbei ist es sinnvoll, sich die schwerwiegendsten Probleme, also nicht erfüllte Prüfschritte, zuerst anzuschauen, denn diese geben meist über die größten und dringendsten Baustellen Aufschluss. Da nicht selten ein Großteil der ermittelten Probleme zusammenhängen, lohnt es sich zudem, die Erkenntnisse der einzelnen Prüfschritte zu vergleichen und in drei bis vier übergeordnete Probleme zusammenzufassen. Aus dieser Zusammenfassung ist es im Anschluss einfacher, notwendige Schritte zur Überarbeitung abzuleiten. Erkennen Sie aber auch an, was bereits gut in der Anwendung funktioniert. Diese Punkte sollten erhalten bleiben und könnten möglicherweise auch bereits Lösungsvorschläge für Probleme enthalten.
Für eine vollständige Bewertung der Barrierefreiheit einer Anwendung gilt nach der EN 301 549 offiziell:
Erst wenn alle Prüfschritte erfüllt oder nicht anwendbar sind, ist die getestete Anwendung barrierefrei.
DIN EN 301 549, Abschnitt 14 [4]
Es genügt also nicht, wenn ein Großteil der Kriterien erfüllt ist, um eine “ausreichende Barrierefreiheit” zu erreichen. Wenn auch nur eine Barriere vorhanden ist, kann keine Barrierefreiheit gegeben sein. Daher müssen alle in der Anwendung prüfbaren Prüfschritte erfüllt sein.
#7 Kennen Sie die Grenzen der heuristischen Prüfung
Die heuristische Prüfung der Barrierefreiheit kann eine kostengünstige und alternative Methode zu weiteren Prüfverfahren sein, um Barrieren in einer Anwendung aufzudecken. Allerdings hat die Methode auch ihre Schwachstellen: Das Verfahren ist eine inspektionsbasierte Evaluierungsmethode, die Benutzer*innen werden dementsprechend nicht in den Prüfungsprozess mit einbezogen [5]. Wie bereits in Punkt 2 erwähnt, kann das technische Hintergrundwissen eines*einer UUX-Experte*in zwar dabei helfen, Fehler in der Bewertung zu vermeiden – allerdings sollte Ihnen bewusst sein, dass selbst dann die Barrierefreiheit einer Anwendung nur bedingt umfassend geprüft werden kann und möglicherweise Probleme übersehen werden, die nur in Usability Tests mit Benutzer*innen aufgedeckt werden können. Daher ist von einer Beschränkung auf heuristische Prüfverfahren bei einer Begutachtung der Barrierefreiheit abzuraten. Vielmehr sollte diese Methode als eine Ergänzung zu umfangreichen Tests mit Benutzer*innen angesehen werden, durch die erste Schwachstellen im Voraus effizient und kostengünstig identifiziert werden können.
Fazit
Diese 7 Tipps zeigen Ihnen nicht nur auf, welche Herausforderungen der Prozess einer heuristischen Prüfung der Barrierefreiheit beinhaltet, sondern auch Wege, wie sich Prüfer*innen diesen Herausforderungen stellen können. Ein strukturiertes Vorgehen und eine nachvollziehbar gestaltete Dokumentation im Gutachten sowie eine aufschlussreiche Auswertung sind bereits wichtige Elemente einer gelungenen heuristischen Prüfung. In all diesen Schritten zeigt sich jedoch auch die Notwendigkeit von umfangreichem Hintergrundwissen und Erfahrung bei der Beurteilung von einzelnen Prüfschritten und des Gesamtergebnisses. Gerade an diesem Punkt können UUX-Expert*innen dabei helfen, qualitative Ergebnisse effizient zu erzielen.
Unser Angebot #UUXfürAlle bietet Ihnen genau diese professionelle Unterstützung. Durch die wissenschaftlich fundierte Arbeit unserer UUX-Expert*innen können Sie die digitale Employee Experience verbessern: Dazu testen und zertifizieren wir Ihre Fachanwendung auf Barrierefreiheit und Softwareergonomie.
Sie sind sich noch unsicher? Dann nutzen Sie gerne unser kostenloses Starter-Paket. Dieses enthält eine heuristische Prüfung, sowie einen schriftlichen Prüfbericht basierend auf Prüfverfahren der DIN EN ISO 9241-110 und der EN 301 549. Erhalten Sie zudem konkrete Verbesserungsvorschläge, sodass Sie und Ihre Kunden*innen von Weiterentwicklungen in Ihrer Fachanwendung profitieren können.
Weiterführende Links
- [1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32016L2102&from=DE
- [2] https://www.bitvtest.de/bitv_test/bitv_test_selbst_anwenden/selbstbewertung.html
- [3] https://www.bitvtest.de/bitv_test.html
- [4] Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen; Englische Fassung EN 301549 V3.2.1:2021; deutscher Text (E DIN EN 301549:2021-08 Abschnitt 14)
- [5] https://u-ux.de/methoden/heuristische-evaluation
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