Bereits seit Januar 2021 besteht für die WCAG 3.0 bereits ein “Public Draft” [1], ein veröffentlichter Zwischenstand der W3C-Arbeitsgruppe. Währenddessen können wir uns aber über ein Update zwischendurch freuen, welches wir bereits kurzfristig Ende April 2023 erwarten: Die WCAG 2.2. Die Norm für leichte Sprache, welche sich bis Ende Mai 2023 noch in der öffentlichen Kommentierungsphase befindet, wird für alle kostenlos erhältlich sein und gegen Ende 2023 erwartet. Die EN 301 549 erwartet im Jahr 2025 eine große Neuerung, wenn mit der Version 4.1.1 der Prüfschrittkatalog überarbeitet und ergänzt werden soll.
#1: Die W3C Accessibility Guidelines (WCAG 3.0): Mehr HowTos und konkrete Unterstützung anstatt komplexer Prüflisten
Die WCAG 3.0 soll in sich ihrer Form neu ausrichten und nicht nur auf vergangenen WCAG-Versionen aufbauen, sondern das Format grundlegend weiterentwickeln und über den Aspekt des “Contents”, also Inhalts einer Webanwendung, hinausgehen.
Schon allein der neue Name “W3C Accessibility Guidelines” (welcher günstigerweise immer noch gut zum alten Acronym “WCAG” passt) zeigt die neue Ideologie hinter den neuen Richtlinien, welche sich nun auch auf die Frage nach dem “Wie?” beziehen soll. So wird die Version 3.0 nicht nur aus harten Kriterien und Techniken bestehen, sondern seinen Leser*innen auch mit konkreten How-To’s und Methoden konkrete Ergebnisse zeigen, wie barrierefreie Web-Gestaltung funktioniert.
Doch vorerst ist dies alles noch Zukunftsmusik, da das W3C selbst erwartet, dass die WCAG 3.0 noch mehrere Jahre in Bearbeitung sein wird.
#2: Der kleine Schritt vor dem großen Wurf: Die neue WCAG 2.2
Die WCAG 2.2 wird auf den Kriterien der aktuellen Version 2.1 und 2.0 aufbauen, einzelne Kriterien anpassen und den Katalog voraussichtlich durch 9 neue Kriterien ergänzen. Wobei sich auch die konkreten Änderungen bis zur Veröffentlichung noch ändern können.
Ursprünglich sollte diese Version bereits im November 2020 veröffentlicht werden, was sich durch die Pandemie aber einige Jahre nach hinten verzögert hat. Nun befindet sich die Arbeitsgruppe in der finalen Phase des Projekts und erarbeitet mit dem aktuellen “Working Draft” [2], einem internen Arbeitsdokument, die wohl letzte Version vor der Veröffentlichung. Doch was ändert sich konkret mit Version 2.2?
Der Tastaturfokus wird wichtiger
Die größte Änderung ist das Kriterium “Focus Appearance” (zu Deutsch “Tastaturfokus”), welches in der neuen Version von einem AA-Kriterium zu einem A-Kriterium aufgewertet wird. Während in der aktuellen Version ein gut sichtbarer Tastaturfokus, also eine eindeutige Markierung bei der Tastaturbedienung, bereits auf eine starke Barrierefreiheit hinweist, so wird dies zukünftig als eine grundlegende Funktionalität einer jeden Webanwendung gefordert.
Weiterhin wird das Kriterium durch neue Anforderungen präzisiert, welche dann auf AA-Niveau liegen, wie der Tastaturfokus konkret gestaltet werden sollte und welche Attribute dieser aufweisen muss. Diese Neuerung ist immens wichtig, da besagtes Kriterium sich sehr häufig bei unserer Arbeit als UUX Berater*in zu einem wahren Knackpunkt vieler Anwendungen entwickelte. Ein gut sichtbarer Tastaturfokus wird immer wieder bei Anwendungen nicht ausreichend gut durchdacht, was meist zu einer deutlich schlechteren Usability und Barrierefreiheit führt, infolgedessen dann auch immer wieder in unseren Gutachten angesprochen wird.
Konkrete Hinweise und eine präzise Beschreibung der Funktionalität seitens des W3C sollen diesem Problem zukünftig entgegenwirken und diesen sehr wichtigen Aspekt der digitalen Barrierefreiheit nachträglich stärken.
Barrierefreie Authentifizierung geplant
Grundlegende Aspekte, wie eine barrierefreie Alternative der Authentifizierung, werden zukünftig ebenfalls Teil des Kriterienkatalogs sein. So ist vorgesehen, dass bei der Anmeldung auch immer eine barrierefreie Alternative zur Verfügung gestellt wird. Vor allem im Hinblick auf Captcha [3] [4], welche schon seit längerem in der Kritik aufgrund von schlechter Barrierefreiheit stehen, wird dies durchaus zu interessanten Neuerungen führen. Grundsätzlich lässt sich hier aber auch erstmal nur die Veröffentlichung abwarten, bevor über tatsächliche Neuerungen gesprochen werden kann. Alle diskutierten Neuerungen sind nämlich erstmal nur ein Zwischenergebnis der W3C-Arbeitsgruppe.

#3: Neue Norm zu “Leichte Sprache”
Was ist überhaupt leichte Sprache? Bei leichter Sprache handelt es sich um eine vereinfachte und leicht verständliche Variante des Deutschen. Hierbei wird die grammatikalische Struktur vereinfacht, auf komplizierte Wörter verzichtet und der Inhalt auf die grundlegenden Informationen heruntergebrochen. Ziel ist es, die Sprach- oder kognitive Barriere zu überwinden und so einfacher mit allen Menschen zu kommunizieren. Sie hilft allen mit einer Lern- oder Leseschwierigkeit, alten Menschen, Personen mit keinen oder nur wenigen Deutschkenntnissen und auch all denen, die aufgrund von kognitiven Barrieren im Alltag behindert werden. Hier ein Beispiel für Leichte Sprache:
Viele Menschen verstehen leichte Sprache besser. Dann wissen sie auch mehr. So können sie besser entscheiden und selbst bestimmen. Das ist in vielen Bereichen im Leben wichtig.
LEBENSHILFE Bremen [5]
Wem hilft die leichte Sprache?
Menschen, die Legastheniker*innen oder Migrant*innen sind, haben häufig Probleme mit den Formularen und Texten diverser Verwaltungsbereiche. Immer wieder müssen diese andere Personen um Hilfe bitten und dafür teils private Informationen mit ihnen teilen. Der Grund: Die Eingabemasken und Dokumente sind nicht verständlich genug gestaltet.
Somit ist leichte Sprache natürlich ein wichtiger Bestandteil der Barrierefreiheit und vor allem für wichtige Prozesse, beispielsweise in einer digitalen Verwaltung, essenziell.
Eine neue Norm: DIN SPEC PAS 33429
Hierfür wird nun die DIN SPEC PAS 33429 erarbeitet, welche für den deutschen Raum Empfehlungen zu leichter Sprache formuliert. Dabei handelt es sich vorerst um eine Vornorm, welche aber perspektivisch zum Industriestandard werden soll und auf lange Sicht den inzwischen 12 Jahre alten Teil 2 der BITV 2.0 Anlage 2 Teil 2 [6] ersetzen soll.
Die BITV 2.0 formuliert aktuell nur vage Vorschläge, welche kaum Substanz und konkrete Umsetzungsvorschläge bieten. So hilft der Punkt “Tabellen sind übersichtlich zu gestalten” nur bedingt weiter, wenn jede Person eine andere Vorstellung des Adjektivs “übersichtlich” hat. Somit soll diese Norm die Anforderungen konkretisieren und in einem anwendungsnahen Empfehlungskatalog bündeln, welcher dann vorerst unverbindlich umgesetzt werden kann.
Die entsprechende Norm, welche sich bis Ende Mai 2023 noch in der öffentlichen Kommentierungsphase befindet, wird für alle kostenlos erhältlich sein und gegen Ende 2023 erwartet.
Gutachten werden auch leichte Sprache berücksichtigen
In Zukunft wird es notwendig sein, dass Gutachten zu Barrierefreiheit auch einen Teil zu leichter Sprache enthalten. Vor allem mit der hohen Relevanz für den öffentlichen Verwaltungssektor passt dies perfekt in unser Portfolio an Dienstleistungen.
Leichte Sprache wird in der Zukunft definitiv nicht an Relevanz verlieren und, ganz im Gegenteil, für immer mehr Menschen, welche Deutschland als interessanten Wirtschaftsstandort ansehen, eine wichtige Stütze bei der Integration sein.
Aber auch für Personen mit Legasthenie wird dies einen positiven Mehrwert bieten. Schätzung nach haben 4,3 bis 6,4 Prozent [7] der erwachsenen Deutschen Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, wobei die Schätzungen hier sehr stark aufgrund von Methodik und Kriterien zwischen 3 und 20 Prozent schwanken. Wenn wir nun von einem mittleren Wert von 5 Prozent ausgehen, welcher aus dem Vergleich internationaler Studien hervorgeht, so betrifft dies schätzungsweise 3,5 Mio. deutsche Erwachsene.
#4: Erneuerung der DIN EN 301 549: Auswirkungen des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG)
Die DIN EN 301 549 ist bei Nestler UUX Consulting eine der zentralen Normen, mit welcher wir die Barrierefreiheit diverser Anwendungen testen. Diese umfasst in der aktuellen Version 3.2.1 ein umfangreiches Spektrum verschiedener Produkte wie Software, Web-Anwendungen, Dokumente aber auch Hardware und Notrufdienste, welche in Kombination mit der WCAG auf Basis verschiedener Prüfschritte getestet und bewertet werden.
Neue Version 4.1.1: Barrierefreie Produkte und Services
Vor allem der neue Bereich “products and services” dürfte alle Unternehmen, welche das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verfolgt haben, interessieren. Der neue Bereich knüpft konkret an den beschlossenen Umfang des BFSG an und bietet Hersteller*innen eine konkrete Norm mit neuen Prüfschritten, welche die relevanten Anforderungen abdeckt.
Doch was sind “products and services” genau? Ab dem 28.06.2025 verpflichtet das BFSG alle größeren Unternehmen (mehr als 2 Mio. Euro Jahresumsatz, mehr als 10 Mitarbeiter*innen) dazu, bestimmte Anwendungen und Produkte barrierefrei zu gestalten. Diese umfassen Geräte wie Computer, Fernseher mit Internetzugang oder Selbstbedienungterminals wie Bankautomaten und Dienstleistungen wie Bankanwendungen, Messenger oder Anwendungen für den Nah- und Fernverkehr.
Aus diesem Gesetz ergeben sich nun zwangsweise auch neue Anforderungen beziehungsweise Verpflichtungen für die Hersteller*innen, welche bestenfalls bereits im Entwicklungsprozess mit eingebunden werden sollten.

#UUXfürAlle: Unterstützung, Vorbereitung und Antizipation der Neuerungen in der EN 301 549
Bekanntlich ist es in der Regel günstiger ein Produkt direkt ohne Fehler zu gestalten und zu produzieren, als Fehler nachträglich wieder zu beheben. Doch was machen wir, wenn der Prüfkatalog nicht vorher bekannt ist?
Einige Leserinnen und Leser werden bereits gemerkt haben, dass die neue Version der DIN EN 301 549 erst im September 2025 erscheint, während das BFSG schon einige Monate früher in Kraft tritt. Welche Auswirkungen wird das auf den Entwicklungs- und Gestaltungsprozess in den Monaten und Jahren bis zur Veröffentlichung der Norm haben? Und wie wird die Norm den deutschen Markt beeinflussen, wenn die Norm veröffentlicht wird?
Wir schauen bereits gespannt in Richtung der neuen Version der Norm und dem BFSG und versuchen uns bestmöglich darauf vorzubereiten, um unsere Kundinnen und Kunden optimal unterstützen zu können. Hierfür schauen wir bereits im Voraus nach Veröffentlichungen und angekündigten Veränderungen. Wir betrachten die Gesetze schon mal genauer und bieten neue Angebote wie #UUXFürAlle an, um langfristig und parallel zur Entwicklung digitaler Dienstleistungen unterstützen zu können. Doch schlussendlich wird auch hier nur die endgültige Norm konkret zeigen, wie und was genau relevant für eine gute Barrierefreiheit sein wird.
Herausforderungen im Normungsprozess im Kontext der digitalen Transformation
Immer wieder erscheinen neue Geräte, Technologien und Programme. Manchmal kommen wir schlichtweg nicht hinterher. Und manchmal sind wir mit neuen Dingen überfordert, verstehen nicht, wie sie funktionieren und wie wir sie bedienen können.
Doch wie ist das erst, wenn wir gleichzeitig noch mit Barrieren der Produkte kämpfen müssen? Umso wichtiger ist es, dass Normen und Prüfprozesse bestehen, um die Qualität zu sichern und maximale Barrierefreiheit zu gewährleisten. Umso besser ist es, dass diese Updates regelmäßig durchgeführt werden.
Doch heißt regelmäßig auch rechtzeitig? Natürlich verstehen wir, dass ein Normungsprozess lange dauert und viele verschiedene Schritte und die Kooperation einer Menge Menschen erfordert. Doch kann dies mit dem Fortschritt der Technologie mithalten? Wenn in zwei Jahren eine neue Version der DIN EN 301 549 erscheint, wird diese dann noch aktuell genug sein? Oder wird die Technologie zu dem Zeitpunkt bereits eine neue Herausforderung für Barrierefreiheit geschaffen haben?
Fazit: User Experience und Barrierefreiheit verfolgen das gleiche Ziel
Wir schauen alle erwartungsvoll und gespannt auf die Neuerungen der Normen und Gesetze. Die Hoffnung ist hier natürlich, dass diese zukünftig das Leben der Menschen vereinfachen und auch den Entwicklungsprozess unterstützend begleiten.
Gute User Experience und Barrierefreiheit stehen sich gegenseitig nicht im Weg. Im Gegenteil: Eine barrierefreie Anwendung wird immer von allen Menschen genutzt werden können. Daher begrüßen wir persönlich auch die vielen, sinnvollen Neuerungen und schauen der barrierefreien, digitalen Zukunft sehr positiv entgegen.
Weiterführende Links
- [1] https://www.w3.org/WAI/standards-guidelines/wcag/wcag3-intro/
- [2] https://w3c.github.io/wcag/guidelines/22/
- [3] https://www.w3.org/TR/turingtest/#the-accessibility-challenge
- [4] https://webaim.org/projects/screenreadersurvey7/
- [5] https://leichte-sprache.de/leichte-sprache/was-ist-leichte-sprache/
- [6] https://www.gesetze-im-internet.de/bitv_2_0/anlage_2.html
- [7] https://www.aerzteblatt.de/archiv/35627/Legasthenie-Symptomatik-Diagnostik-Ursachen-Verlauf-und-Behandlung
3 Kommentare zu “Wissenschaftlich fundierte Usability und User Experience: Welche vier neuen Normen sollten UUX Expert*innen kennen?”