Dieser Artikel ist kein Nachruf auf den Fahrkartenautomaten. Aber dennoch konnte er uns ja schon vor dem Deutschlandticket wirklich leid tun – beispielsweise, wenn er wieder als beliebtes und leichtes Opfer in meinen Lehrveranstaltungen zu Mensch-Computer-Interaktion herhalten muss. Ich nutze ihn sehr gerne in meinen Vorlesungen und erläutere anhand dieses Artefakts dann beispielsweise die Herausforderungen in Bezug auf Accessibility und Design for all.
Denn die Frage „Wie kann ein Automat in Bezug auf Hard- und Softwareergonomie so gestaltet werden, dass er für alle Menschen nutzbar ist?“ ist recht knifflig. Das geht nämlich bereits bei der Positionierung des Displays los: Wie hoch sollte es sein, damit stehende Menschen gut damit interagieren können? Und wie hoch darf es maximal sein, damit auch Menschen im Rollstuhl das Display noch nutzen können? Anhand dieses Beispiels lässt sich dann auch hervorragend das Dilemma bei der Findung von Kompromissen erläutern: Für die einen ist das Display im Zweifelsfall zu niedrig – für die anderen hingegen zu hoch.
Der Fahrkartenautomat auf dem Weg ins Geschichtsbuch
Viele der historischen Entwicklungen in der Mensch-Computer-Interaktion sind gut geeignet, um grundlegende Prinzipien zu erklären. Ich erlebe dabei, wie die Erfahrungen der Studierenden und meine eigenen Erfahrungen zunehmend auseinander triften: Das Festnetztelefon, der Anrufbeantworter (als Gerät), Windows 95 oder das Jahr 2000 Problem – immer wenn ich leichtfertig Dinge sage wie: „Wir erinnern uns ja alle noch an Clippy“, wird mir bewusst: “Opa erzählt gerade vom Krieg”. Ich erinnere mich, doch meine Zuhörer*innen waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal auf der Welt.

Und nun soll also auch der Fahrkartenautomat von den Bahnhöfen auf direktem Weg in die Geschichtsbücher wandern? In 20 Jahren werden unsere Studierenden sagen: „Ja, die Fahrkartenautomaten – davon haben mir meine Eltern mal erzählt. Da hat man ganz früher diese Papierzettel – wie hießen die doch gleich… Fahrkarten? – gekauft“.
Der Ticketkauf als Erlebnis?
Der Fahrkartenautomat. Er hatte es nie leicht, denn er hatte jeden Tag mit gestressten Menschen zu tun. Und die wenigsten dieser Menschen waren bereit, sich wirklich auf sein mentales Modell einzulassen. Oft haben die Menschen dann über ihn gesagt: „Dieser Automat denkt nicht im mentalen Modell der Menschen“. Manche wurden sogar richtig wütend und haben in ihrer Verzweiflung nach ihm getreten. Sein fortwährendes Problem: Der Kauf eines Tickets war niemals originär mit den Zielen der reisenden Menschen verbunden.

Wenn wir das Konzept der User Experience an dieser Stelle konsequent zu Ende denken: Kann der Kauf eines Tickets dann jemals ein Erlebnis sein? Oder bleibt dieser Schritt am Ende immer eine Hürde, die den Zugang zu den Erlebnissen stört?
Überflüssig gewordene Interfaces führen zu besseren Interaktionen
Mark Weisers Vision aus dem Jahr 1990 von dem Computer im Hintergrund [1] betrifft genau diese Thematik: Mark Weisers Computer der Zukunft sollte einfach funktionieren; smart und unauffällig – ohne dass hier notwendigerweise explizite Interaktionen über Interfaces erforderlich sind. Ein bisschen erinnert uns das vielleicht an die sogenannten konkludenten Handlungen [2]: Im Supermarkt weiß der Kassierer oder Kassiererin, dass ich alle Artikel auf dem Band kaufen möchte. Doch was bedeutet das Prinzip der konkludenten Handlungen nun für den Bahnautomat? Er wird nach dieser Vision als Ort der expliziten Willenserklärung ebenfalls überflüssig – denn der Zug weiß, dass ich mit Ticket fahren möchte.
Doch genug mit diesen absurden Zukunftsvisionen. Die großartige und von langer Hand vorbereitete Innovation im Bereich des Bahnfahrens der Zukunft beschränkt sich darauf, dass wir ein Ticket durch ein anderes ablösen. Und selbst das hat nun schon etliche Monate gedauert. Umso größer ist die Freude: Das 49-Euro-Ticket ist nun tatsächlich da! Hurra!
#1: Die Digitalisierung des Tickets. Warum eigentlich?
Ja! Das Deutschlandticket ist nun endlich da. Wir feiern die Einführung und freuen uns: Das Ticket gibt es nur noch digital. Wir erwischen also nun gleich zwei Fliegen: Die schleppende Verkehrswende und die schleppende Digitalisierung. Die beiden Dinge passen derart gut zusammen, dass man glatt überlegen sollte, diese beiden Themen zukünftig in einem Bundesministerium zu bündeln!
Genau das scheint ja im Jahr 2023 das primäre Ziel der Digitalisierung zu sein: Die Abschaffung des Papiers. Das macht Sinn – allein schon wegen der Nachhaltigkeit! Denn Papier lässt sich im Jahr 2023 zum Glück ganz einfach ersetzen: Wir brauchen dafür nur ein paar seltene Erden, viel Energie, viele weitere Rohstoffe und schlecht bezahlte Arbeiter*innen – und schon können wir all das, was wir bisher auf dem wenig nachhaltigen Papier gemacht haben, endlich ganz nachhaltig auf energiefressenden, digitalen Geräten machen. Aber wir denken auch dabei an die Bedürfnisse der Menschen: Wer partout nicht ins nachhaltige Digitale wechseln möchte, bekommt eine Plastikkarte. Oder übergangsweise eben doch Papier.
Deutlich wird auch hier: Das digitale Ticket bietet ganz offensichtlich für die Bahn Vorteile (beispielsweise eine bessere Nachverfolgung der Fahrgäste, vgl. [3]). Da wäre es doch schön, hier einen menschzentrierten Ansatz zu finden! Oder anders gefragt:
Wie kann man auch für die Fahrgäste einen praktischen Mehrwert durch die Digitalisierung des Tickets schaffen?
UX und Service Design setzt auf die Entwicklung von echten Vorteilen, so dass wir Menschen uns am Ende ganz freiwillig für die digitale Alternative entscheiden. Weil sie in der Praxis konkrete Vorteile bietet. Und ganz offen gesagt: Wenn die digitale Lösung aktuell noch nicht für jede*n einen echten Vorteil bietet, dann ist sie entweder nicht ausgereift – oder nicht die beste Lösung für das vorliegende Problem.
#2: Es gibt eine App für alles. Was wird dadurch einfacher?
Die Aufregung um das „digitale Ticket“ war in den letzten Tagen und Wochen groß. Doch nun ist ein digitales Ticket doch eigentlich nichts wirklich Neues – viele Bahnfahrer*innen nutzen es bereits seit Jahren. Anfangs haben einige als Backup noch ein Papierticket mitgeführt (falls der Akku des Smartphones einmal leer ist) – inzwischen sind wir derart abhängig von unseren Mobiltelefonen, dass wir das wirksam zu verhindern wissen: Wir haben in jedem Rucksack und in jeder Jackentasche mindestens ein Ladegerät.
Es gibt aus Perspektive der Usability und User Experience (UUX) dabei ein klaren Mehrwert der App – nämlich den Komfort Check-in. Nicht nur in Covid-19 Zeiten war der kontaktlose Check-in ein echter Vorteil. Auch jetzt können wir so in Fernzügen konzentrierter arbeiten und müssen unser Ticket nicht bei jedem Schaffner*innenwechsel erneut vorzeigen. Wir brauchen nun für den Nahverkehr keine Platzreservierung – aber auch hier muss die Digitalisierung einen echten Mehrwert für die Fahrgäste schaffen.

Die Funktion für den Fernverkehr hat sich im Laufe der Jahre zudem positiv weiterentwickelt: So können wir mittlerweile beispielsweise auch auschecken und dann an einem neuen Platz wieder einchecken. Die reflexartige, technologiepessimistische Perspektive lautet an dieser Stelle dann direkt: Nun schafft diese Option auch noch den letzten, obligatorischen, zwischenmenschlichen Kontakt im Zug ab.
Doch eine besondere User Experience entsteht durch die Ticketkontrolle durch gestresste Schaffner*innen nun nicht wirklich. Im Gegenteil: Wenn wir durch gelungene Digitalisierung die repetitiven, eher stumpferen Tätigkeiten im Berufsalltag reduzieren, bleibt den Zugbegleiter*innen mehr Zeit für die Fahrgäste: Einem Vater mit dem Kinderwagen helfen, einer älteren Dame persönlich Informationen zum Umstieg geben, den Kindern ein Spielzeug schenken oder der Geschäftsreisenden einen Kaffee bringen – das Potential für gutes Service Design im Zug ist groß.
Das Deutschlandticket zeigt: Eine gute Digitalisierung übersetzt nicht die analogen Prozesse ins Digitale. Digitalisierung macht Prozesse überflüssig, erfordert die Einführung von neuen Abläufen und die Veränderung der existierenden Vorgehensweisen.

#3: Der Mentale Workload zählt. Warum vergessen wir das Ticket?
Der Begriff Mental Load wird im Kontext der Care-Arbeit zunehmend populär [4]. Die zentrale Erkenntnis lautet: Es sind nicht nur die sichtbaren Aktivitäten an der Oberfläche, die uns im Alltag herausfordern. Sondern auch die organisatorischen und administrativen Unterstützungsprozesse sind im familiären Kontext Teil der Care-Arbeit.

Im Bereich der Mensch-Computer-Interaktion kennt man ein ähnliches Prinzip schon seit vielen Jahrzehnten. Unter dem Prinzip des mentalen Workloads subsummieren wir die folgende, zentrale Erkenntnis: Jede Tätigkeit benötigt mentale Ressourcen, damit wir diese Tätigkeit ordnungsgemäß ausführen können.
Menschen beherrschen kein Multitasking
Das ist auch der Grund, dass wir Menschen beispielsweise mit Hilfe von Mutlitasking nicht in der Lage sind, effizienter zu arbeiten. Clifford Nass konnte in seinen Studien eindrucksvoll zeigen, dass die parallele Ausführung von mehreren Tätigkeiten zu einem schlechteren Denken führt [5].
Der Grund: Unser Arbeitsgedächtnis hat nur eine begrenzte Kapazität. Je mehr Tätigkeiten wir also parallel ausführen, umso weniger mentale Kapzitäten stehen für jeder der Tätigkeiten zur Verfügung. Als Testverfahren für die Messung dieses mentalen Workload hat sich beispielsweise der NASA-TLX [6] etabliert.
Die Kunst, Prozesse richtig zu automatisieren
Doch was hat das nun mit dem Bahnfahren zu tun? Es besteht hier die Gefahr, dass wir das Lösen eines Tickets schlicht vergessen. Wir sind abgelenkt, beschäftigt und verlieren den Erwerb eines Tickets aus dem Blick. Besonders fatal war das bei klassischen Ticketsystemen im Nahverkehr, bei denen wir das Ticket nur am Bahnhof, aber nicht im Verkehrsmittel entwerten konnten. Können wir auch dieses Problem nun durch ein besseres User Experience Design lösen?
Wir könnten hier einfach in andere Domänen schauen: Wir kennen ähnliche Herausforderungen schon von anderen Automaten. Denken wir beispielsweise an den Geldautomaten: Würde es beim Geldautomaten erst das Geld geben, wären dort haufenweise Karten im Automaten! Oder auch die typische, immer wiederkehrende Frage bei der Verwendung eines Getränkeautomatens: Erst das Geld einwerfen oder erst das Produkt wählen? Erfahrungsgemäß ist die Reihenfolge hier immer genau umgekehrt als erwartet.
Der Kampf gegen das Übersehenwerden
Beim Bahnautomaten ist es ein klein wenig schwieriger: Wenn im Eifer des Gefechts der Erwerb eines Tickets aus dem Blick gerät, dann lässt sich das Problem eigentlich nur wirksam durch Zutrittsperren lösen. Auch das kennen wir ja aus anderen europäischen Metropolen bereits.
Wenn wir über den mentalen Workload argumentieren, können wir festhalten, dass das 49-Euro-Ticket uns von einer unangenehmen Hürde befreit:
Mit dem Deutschlandticket haben wir eine Sorge weniger: Wir können den Ticketkauf nicht mehr vergessen.

#4: Das neue Ticket ist die preiswerteste Lösung. Immer?
Wenn wir regelmäßig mit dem öffentlichen Nahverkehr fahren, dann ist klar: Das 49-Euro-Ticket ist objektiv die preiswerteste Lösung. Auch das hat mehr mit User Experience zu tun, als wir auf den ersten Blick denken. Denn es geht hier insbesondere um das Vertrauensverhältnis zwischen Verkehrsverbund und seinen Kund*innen; oder ganz allgemein: Es geht bei der Customer Experience (CX) um die Beziehung zwischen den Unternehmen und ihren Kund*innen. Zu dem positiven Erlebnis der Kund*innen gehört das nachhaltige (!) Gefühl, von dem Unternehmen fair behandelt worden zu sein.

Unternehmen, die den Lebenszyklus der Customer Experience zu Ende denken, wissen: Nach dem Kaufabschluss ist vor dem nächsten Kaufabschluss – zumindest, wenn Customer Experience von dem Unternehmen ganzheitlich betrachtet wird. Kund*innen nachhaltig begeistern, bedeutet dann auch: Nach der Bestellung des Tesla wollen wir nicht erfahren, dass das Fahrzeug nun erheblich günstiger ist [7], auf der Vergleichsplattform wollen wir nicht erfahren, dass unser Stromanbieter Neukund*innen bessere Preise bietet als den langjährigen Bestandskund*innen [8] und Hotelkund*innen wollen nicht erfahren, dass die Direktbuchung beim Hotel günstiger gewesen wäre als auf dem Buchungsportal [9].
Das Deutschlandticket: Transparent und fair. Für alle.
Was bedeutet das nun konkret für das 49-Euro-Ticket? Wir wissen, dass wir mit dem 49-Euro-Ticket den besten Preis für die regelmäßig Nutzung des Nahverkehrs bekommen. Denn (unfreiwilliges) Schwarzfahren ist den meisten von uns maximal unangenehm. Wir wollen also auf jeden Fall sicher gehen, dass wir ein ausreichendes Ticket für den jeweiligen Verkehrsverbund besitzen.
Das bedeutet dann in der Konsequenz: Gerade wenn wir mit dem Verkehrsverbund nicht vertraut sind, gehen wir auf Nummer sicher. Wir buchen ein Ticket, das auf jeden Fall für die jeweilige Fahrt ausreichend ist. Die Angst vor dem falschen oder nicht ausreichenden Ticket führt unterm Strich dann zu höheren Kosten.
Vorausschauende Planung – oder: Endlich wieder spontaner reisen
Erschwerend kommt noch hinzu: Der Kauf von Tickets erfordert häufig bereits sorgfältige Antizipation. Beispielsweise beim Münchner Verkehrsverbund ist eine Hin- und Rückfahrt (am gleichen Tag) mit Einzelfahrten oder einer Streifenkarte günstiger; erst ab mehr als zwei Wegen lohnt sich dann eine Tageskarte. Doch wer weiß schon immer im Voraus, ob er oder sie auf dem Rückweg doch noch spontan einen (längeren) Abstecher machen wird? Durch die radikale Begrenzung der Optionen reduziert sich somit die Gefahr, eine falsche Wahl zu treffen:
Das Deutschlandticket vermeidet das Risiko, übervorteilt zu werden.

#5: Das Ticket ist eine Lebenseinstellung. Oder nur eine Option?
In der UX Community zeichnet sich gerade ein neuer Trend ab – besonders gut ist dieser bei jüngeren Absolvent*innen und UX Studierenden zu beobachten: Angehende UX Designer*innen wollen eher selten die Usability der Steuerung von Kriegsschiffen optimieren, wenngleich es hier aus fachlicher Sicht viel Potential gäbe [10].
Optimierung von Widescreen-Interfaces für den Individualverkehr? Verbesserung der Customer Experience bei der Konfiguration von Luxusjachten? Menschen wissenschaftlich fundiert zu mehr Konsum von sozialen Medien verleiten? Derartige Fragestellungen werden für Studierende zunehmend weniger interessant.

Nachwuchsexpert*innen sehen die Disziplin UX Design stattdessen mehr und mehr als einen maßgeblichen Beitrag zu einem besseren Leben. Arbeitskreise, wie beispielsweise „The Positive X“ der German UPA [11], sind ein weiterer Indikator für diesen Perspektivwechsel.
Auch theoretische Optionen haben einen Wert
Wie lässt sich also die User Experience des 49-Euro-Tickets beschreiben? Der Besitz eines solchen Tickets ist mehr als eine einfache Bezahlung des Fahrpreises. Das 49-Euro-Ticket ist auch eine Lebenseinstellung: Die einen kaufen sich als Statement ein hochmotorisiertes Fahrzeug – die anderen ein Abo für den Nahverkehr.
Das spannende dabei: Bei einem Fahrzeug würden wir gar nicht erst fragen, ob es sich wirtschaftlich lohnt. Wenn unser Auto den Großteil der Zeit nur am Straßenrand oder in der Garage steht, wäre ein intelligentes Sharing-Konzept in vielen Fällen wirtschaftlicher. Daher geht es hier um mehr: Es geht um eine Lebenseinstellung – ein Gefühl der unbegrenzten Freiheit. Die theoretische Möglichkeit, jederzeit überall hinfahren zu können, rechtfertigt die Kosten.
Die pragmatische Qualität des Deutschlandtickets
User Experiernce besteht bekanntlich immer aus einer pragmatischen und hedonischen Dimension. Unser bisheriger Ansatz erklärt dabei zunächst nur die erste Dimension des Erwerbs eines eigenen Fahrzeuges – doch diese Dimension der UX wird auch durch das 49-Euro-Ticket adressiert: Die theoretische Option hat einen Wert an sich – unabhängig von den tatsächlichen Handlungen.
Wir könnten sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten: Das 49-Euro-Ticket ist aus UX-Perspektive dem Auto sogar überlegen: Wenn ich die theoretische Möglichkeit beim Individualverkehr nicht nutze, dann ist das ein realer Wertverlust: Das Auto steht ungenutzt im Weg herum und verliert kontinuierlich an Wert (und bei längeren Standzeiten im schlimmsten Fall sogar seinen praktischen Nutzen). Die Experience der verpassten Möglichkeiten ist beim 49-Ticket erheblich positiver:
Wenn ich das Deutschlandticket nicht ausnutze, führt das zu keinem Schaden – sondern wir unterstützen ein Ideal, mit dem wir uns identifizieren können.

Der Haken: Ist das Deutschlandticket nun tatsächlich konsequent von den Menschen her konzipiert?
Es wird also alles gut. Die Bahn schafft nun ein großes Ärgernis und Hindernis auf dem Weg zu einer positiven User Experience ab. Das Zeitalter des Service Designs kann endlich beginnen. Doch die Deutsche Bahn wäre natürlich nicht die Deutsche Bahn, wenn sie nicht einen raffinierten Weg gefunden hätte, um dieser guten Ideen direkt wieder ein klein wenig ihren Glanz zu nehmen.
Von Tickets, Zonen und Betreibern
Wir müssen uns zwar endlich nicht mehr mit Tarifzonen und Ticketoptionen beschäftigen. Aber wir müssen uns stattdessen damit beschäftigen, wer denn eigentlich einen bestimmten Zug betreibt.
Besonders spannend ist dabei der Regionalexpress (RE). In der kollektiven Wahrnehmung handelt es sich dabei um Nahverkehr – besonders gut war das in der Spätphase der Pandemie zu beobachten: Während im ICE von München nach Ingolstadt noch Maskenpflicht herrschte, war diese im Nahverkehr bereits aufgehoben. Im RE wusste damals jede*r, dass dieser Zug zum Nahverkehr gehört – und versteckte das Lächeln nicht mehr hinter einer Maske.

Doch beim 49-Euro-Ticket ist die Lage nicht ganz so übersichtlich. Manche RE werden nämlich von der DB Fernverkehr betrieben; damit gilt das Ticket dort nach aktuellem Stand (vom 26.04.2023) nicht [12].
Dann stellt sich natürlich die ganz praktische Frage, wie wir Menschen das herausfinden können. Die ernüchternde Erkenntnis: Aktuell geht das wohl gar nicht. Denn weder die Reiseauskunft auf der Webseite noch die DB App differenzieren zwischen Zügen von DB Regio und DB Fernverkehr. Man kann zwar bei der Suche klassische Fernverkehrszüge (z.B. IC, EC und ICE) ausschließen. Aber auch das stellt nicht sicher, dass in den angezeigten Verbindungen das 49-Euro-Ticket dann tatsächlich gilt.
Die Mentalen Modelle der Reisenden
Die grundsätzliche Erkenntnis, dass Menschen nicht in Tarifzonen, sondern in “von A nach B“ denken, können wir also direkt noch erweitern:
Bahnreisende denken nicht in Betreibern, Bahnreisende denken in Zügen.
Die Bahn muss also schleunigst eine valide und einfache Antwort auf die Frage finden: Mit welchen Zügen kann ich mit dem 49-Euro-Ticket fahren? Und dafür sollte es eindeutige Zugkategorien geben. Wenn es also ganz offensichtlich zwei unterschiedliche Arten von RE (mit unterschiedlichen Tarifbedingungen) gibt, dann sollten diese Züge sinnvollerweise auch unterschiedlich heißen.
Wie können wir Menschen schwer erklärbare Dinge erklären? Und: Ist das überhaupt sinnvoll?
Bereits diese kleine Änderung würde das gesamte System verständlicher und klarer machen. Die User Experience der Bahnreisenden würde sich verbessern. Oder wir ändern einfach die Tarifbedingungen und das 49-Euro-Ticket gilt fortan auch im RE. Bis dahin können wir uns wohl auf spannende Durchsagen in den RE-Zügen freuen:
Liebe Reisende, wir möchten darauf hinweisen, dass Sie in einem Regionalexpress sitzen. Dieser RE gilt im Sinne des Deutschlandtickets nicht als Regionalzug, da er von der DB Fernverkehr betrieben wird. Das Deutschlandticket gilt daher in diesem Zug nicht. Bitte verlassen Sie diesen Zug und nutzen Sie stattdessen die Regionalbahn von Gleis 26.
Fiktive Utopie: Was kann passieren, wenn wir die UX des 49-Euro-Tickets nicht verbessern?
Ich bin mir nicht sicher, ob es einfachere und effektivere Möglichkeiten gibt, um die Vielzahl an zuvor beschriebenen positiven Aspekten mit nur einer einzigen Aktion wie ein Kartenhaus in sich zusammen fallen zu lassen. Bleibt nur zu hoffen, dass die DB Regio, die DB Fernverkehr (oder wer auch immer), hier gegensteuert, bevor die Frustration allzu groß wird.
Fazit: Auf zur neuen Freiheit
Die Grundstimmung bleibt dennoch positiv: Es gibt viele Erfolgsgeschichten, die zeigen, wie attraktiv eine unlimitierte Nutzung von öffentlichen Mobilitätsservices sein kann. Die bekannteste Erfolgsgeschichte ist wohl Interrail [13], das bei jungen Menschen nach wie vor sehr beliebt ist.
Der Bahncard 100 Effekt
Ein anderes Beispiel ist mein früherer Kollege, der mit der Bahncard 100 fährt, anstatt jedes mal ein Ticket zu kaufen. Obwohl sich das – einseitig betrachtet – gar nicht lohnt. Wir sagen schnell: „Er macht das nur aus Komfort“; oder noch schlimmer: „Aus Faulheit“. Dabei vergessen wir: Der Komfort und die Freude haben ebenfalls einen Wert. Und wenn dieser Wert die Mehrkosten übersteigt, dann kommen wir schneller in die Gewinnzone. Wir entscheiden uns dann nicht für das Abo, weil das 49 Euro Ticket so gut ist, sondern weil die Alternative so schlecht und so unbequem ist.
Werden die alternativen Angebote bestehen bleiben?
Ein kleiner Haken bleibt: Die Motivation der Deutschen Bahn, nun das Buchen von Ländertickets (z.B Bayern-Ticket) zu vereinfachen wird sich – wirtschaftlich betrachtet – in Grenzen halten. Denn je schwieriger der Prozess, umso mehr 49-Euro-Tickets mit Win-Win-Situation werden erworben: Die Reisenden erhalten Komfort (oder erleben zumindest eine Reduktion des Diskomforts) und die Bahn verkauft viele Tickets – ohne übermäßig viel dafür leisten zu müssen.
Das Deutschlandticket profitiert von dem Bahncard 100 Effekt: Für manche lohnt es sich vielleicht finanziell unterm Strich nicht wirklich – aber die UX einer sorgenfreie Reise überwiegt das finanzielle Defizit
Eine Hoffnung bleibt: Dass das 49-Euro-Ticket trotz der Defizite zum Interrail für Deutschland wird. Oder zur Bahncard 100 für den Nahverkehr (oder den etwas kleineren Geldbeutel). Aber vielleicht wird das 49-Euro-Ticket auch zum neuen Fitnessstudio: Allein das Abo an sich führt zu positiven Effekten, auch wenn wir gar keinen praktischen Nutzen daraus ziehen.
Weiterführende Links
[1] https://www.ics.uci.edu/~corps/phaseii/Weiser-Computer21stCentury-SciAm.pdf
[2] https://www.juraforum.de/lexikon/konkludente-handlung
[3] https://praxistipps.chip.de/49-euro-ticket-nur-digital-verfuegbar-das-muessen-sie-wissen_155422
[4] https://www.aok.de/pk/magazin/familie/eltern/mental-load-wie-unsichtbare-aufgaben-frauen-belasten/
[5] https://www.youtube.com/watch?v=MPHJMIOwKjE
[6] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0166411508623869
[7] https://www.adac.de/news/tesla-senkt-preise/
[9] https://www.zeit.de/entdecken/reisen/2019-06/buchungsportal-booking-com-hotel-zimmerpreise-urteil
[11] https://germanupa.de/arbeitskreise/arbeitskreis-positive-x
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