Ob WCAG, EN 301459 oder BITV 2.0 – der Versuch, zwischen all diesen Abkürzungen zum Themengebiet Barrierefreiheit einen Überblick zu gewinnen, kann schnell zu Verwirrungen führen. Aber selbst wenn man sich schon ein wenig zur Gesetzeslage von digitaler Barrierefreiheit in öffentlichen Stellen auskennt, kann eine Differenzierung zwischen EN 301 549 und WCAG schwierig sein. Und auch Unternehmen werden sich spätestens ab 2025 durch den Dschungel kämpfen müssen – ab dann gilt nämlich das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG).
Nicht selten kommt daher im Rahmen der Beratung unserer Kund*innen aus dem öffentlichen Sektor die Frage auf, ob mit der Erfüllung der WCAG eine Anwendung als barrierefrei gilt, worin genau der Unterschied zwischen WCAG und EN 301 549 liegt und welche Anforderungen letztendlich beachtet werden müssen. Die BITV 2.0 fordert Konformität zur EN 301 549; doch gerade internationale Konzerne, beispielsweise aus den USA, weisen für ihre Produkte gegenwärtig häufig “nur” die Konformität zur WCAG 2.1 nach.
Behörden soll der nachfolgende Vergleich dabei helfen, zur WCAG 2.1 konforme Softwareanwendungen effizient und vollständig auf die Konformität zur EN 301 549 (und damit zur BITV 2.0) zu prüfen. Dieser Blogeintrag liefert einen groben Überblick über die aktuelle Gesetzeslage und das Zusammenspiel von WCAG und EN 301 549.
Was umfasst die WCAG 2.1?
Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) sind Richtlinien für barrierefreie Webinhalte und wurden in der ersten Version 1999 vom World Wide Web Consortiums (W3C) erstellt [1]. Diese erste Version, die WCAG 1.0, befand sich seither in stetiger Weiterentwicklung, bis hin zur aktuellen Version, der WCAG 2.1.* Insgesamt bietet diese eine mehrstufige Richtlinie und Anleitung zur Gestaltung von barrierefreien IT-Anwendungen. Dabei gliedert sich die WCAG 2.1 in 4 Hauptebenen auf: Prinzipien, Richtlinien, Erfolgskriterien und Techniken [2].
Wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust
Die Prinzipien der WCAG bieten die Grundlage für die enthaltenen Richtlinien und Erfolgskriterien. Sie umfassen die 4 Eigenschaften Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Die 13 Richtlinien der WCAG bilden grundlegende Ziele ab, um Inhalte barrierefrei zu gestalten. Sie sind dabei keine testbaren Prüfschritte, sondern gelten vielmehr als Orientierungspunkte, um die gegebenen Erfolgskriterien und Techniken besser zu verstehen.
Testbare Erfolgskriterien – von A bis AAA
Für eine aktive Prüfung der Richtlinien wurden die testbaren Erfolgskriterien bereitgestellt, die in die drei verschiedenen Konformitätsstufen A (am geringsten), AA und AAA (am höchsten) untergliedert sind. Die beigefügten Techniken unterstützen bei der Umsetzung der einzelnen Richtlinien und Erfolgskriterien. Neben den ausreichenden Techniken, die befolgt werden sollten, um die Erfolgskriterien grundlegend zu erfüllen, werden auch empfohlene Techniken bereitgestellt, die über den Mindeststandard hinausgehen.
* Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels ist die WCAG 2.1 die aktuelle Version. Ende April 2023 wird allerdings die neue Version 2.2 erwartet. Diese baut auf der WCAG 2.1 auf und erweitert den Katalog um 9 weitere Kriterien. Der Beitrag Wissenschaftlich fundierte Usability und User Experience: Welche vier neuen Normen sollten UUX Expert*innen kennen? von Patryk Watola erläutert alle Neuerungen diesbezüglich im Detail.
Was umfasst die EN 301 549?
Die EN 301 549 (bzw. die Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen) ist eine harmonisierte europäische Norm für digitale Barrierefreiheit. Sie definiert eine Vielzahl an Barrierefreiheitsanforderungen für Informations- und Kommunikationstechnik Produkte und Dienstleistungen, die für den öffentlichen Sektor als verbindlicher Standard gelten [3]. Die Norm wurde vom ETSI Technical Committee Human Factors und der Gemeinschaftsarbeitsgruppe JWG zu eAccessibility von CEN/ CENELEC /ETSI entwickelt und im März 2021 in der aktuellen Version 3.2.1 im Europäischen Amtsblatt veröffentlicht. Für alle öffentlichen Stellen des Bundes ist diese Version somit aktuell relevant, aber auch für alle Organisationen, die IKT-Produkte oder -Dienstleistungen einkaufen, entwickeln oder herstellen.

Der Aufbau der EN 301 549 gestaltet sich aus vierzehn Abschnitten und sechs Anhängen [4]. Dabei sind besonders die Abschnitte 5 bis 13 für die Barrierefreiheitsprüfung eines Produkts oder einer Dienstleistung relevant, da diese alle prüfbaren Kriterien für barrierefreie IKT umfassen. Diese enthalten:
- Allgemeine Anforderungen
- IKT mit Zweiwege-Sprachkommunikation
- IKT mit Videofähigkeiten
- Hardware
- Web
- Nicht-Web-Dokument
- Software
- Dokumentation und unterstützende Dienste
- IKT mit Zugang zu Vermittlungs- oder Notrufdiensten
Die 137 in diesen Abschnitten beschriebenen Anforderungen sind für Web, Dokumente und Software einzuhalten.
Die Prüfschritte der EN 301 549 stehen auf den Schultern der WCAG 2.1
Die beschriebenen Erfolgskriterien der WCAG werden in den Prüfschritten der EN 301 549 explizit aufgegriffen. Insbesondere die Abschnitte 9. Web, 10. Nicht-Web-Dokument und 11. Software referenzieren auf die Inhalte der WCAG 2.1., sodass eine Konformität erst dann gegeben ist, wenn die zitierten Erfolgskriterien der WCAG erfüllt sind. Dies ist dann der Fall, wenn eine Prüfung der Kriterien kein “nicht erfolgreich” ergibt, was bedeutet, dass eine Anforderung an eine Funktion also entweder erfüllt ist, oder die entsprechende Funktion in der Anwendung nicht verwendet wird [4].
Dabei werden die Erfolgskriterien der Konformitätsstufe A und AA als verbindlicher Standard aufgeführt, während die Erfolgskriterien der Konformitätsstufe AAA nur informativ im Abschnitt 9.5 der EN 301 549 beigefügt wurden. Da die AAA Erfolgskriterien nicht für alle Inhalte anwendbar sind, können und sollten diese laut der Norm nicht als verbindlicher Standard angesehen werden. Es wird jedoch ausdrücklich empfohlen auch diese Kriterien bei Möglichkeit mit einzubeziehen:
Webautoren und Beschaffungs-Barrierefreiheitsexperten werden ermutigt, die WCAG 2.1 Stufe-AAA-Erfolgskriterien zu berücksichtigen, die – sofern ihre Anwendung möglich ist – einen über die Anforderungen des vorliegenden Dokuments hinausgehenden Zugang bereitstellen können.
DIN EN 301 549, Abschnitt 9.0 [4]
Nach der EN 301 549 sind damit 50 Erfolgskriterien der Konformitätsstufe A – AA maßgeblich und 28 Erfolgskriterien der Konformitätsstufe AAA empfehlenswert. Neben diesen Erfolgskriterien enthält die EN 301 549 weitere relevante Prüfschritte in den Bereichen Technologien mit Zwei-Wege-Sprachkommunikation, eingebundene Videoplayer, benutzerdefinierte Einstellungen und Autorenwerkzeuge sowie Dokumentation und Support, aber auch weitere allgemeine Anforderungen welche nicht in der WCAG enthalten sind.
Anforderungen der BITV 2.0
Doch welche Anforderungen sind nun für öffentliche Stellen in Deutschland relevant? Die Antwort auf diese Frage liegt in den Anforderungen der BITV 2.0. Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung, oder BITV 2.0, wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlassen und präzisiert technische Standards zur barrierefreien Gestaltung sowie zugehörige Fristen, die für öffentliche Stellen des Bundes gelten [5]. Seit Mai 2019 gilt die aktuelle Version der BITV, welche in § 3 anzuwendende Standards für sämtliche Angebote, Anwendungen und Dienste der Informationstechnik definiert.

Nach der BITV 2.0 ist Barrierefreiheit erst dann gegeben, wenn die Prinzipien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit geachtet wurden. Dies wird dann vermutet, wenn die Anforderungen von den im Amtsblatt der EU genannten harmonisierten Normen erfüllt sind [6]. Da der Durchführungsbeschluss (EU) 2018/2048 auf die EN 301 549 verweist, werden somit sowohl die Prüfschritte der EN 301 549 als auch die in der Norm enthaltenen Erfolgskriterien der WCAG 2.1 für die Umsetzung von digitaler Barrierefreiheit in öffentlichen Stellen relevant.
Allerdings geht die laut der BITV 2.0 zu erreichende Konformitätsstufe über das Maß an Barrierefreiheit hinaus, das nach der EN 301 549 erreicht werden muss. Während hier die Konformitätsstufen A bis AA der WCAG als Standard galten, muss nach der BITV 2.0 § 3 (4) für zentrale Navigations- und Einstiegsangebote sowie Angebote, die eine Nutzerinteraktion ermöglichen das höchstmögliche Maß an Barrierefreiheit (also die Konformitätsstufe AAA) angestrebt werden [6]. Beispiele für solche Angebote sind Formulare , Startseiten oder die Durchführung von Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozessen.
Fazit: Prüfergebnis nach WCAG 2.1 für die Konformität nach der EN 301 549 nutzen
In unserem Beratungsalltag hat es sich unter dem Strich als ein effizientes und praktikables Verfahren erwiesen, die Prüfergebnisse nach WCAG 2.1 zu verwenden, um eine vollständige Konformitätsprüfung zur EN 301 549 durchzuführen. Auch wenn es dabei erforderlich ist, das Prüfergebnis nach WCAG 2.1 auf Plausibilität und Vollständigkeit zu prüfen, so reduziert das Vorliegen der Prüfung nach WCAG 2.1 dennoch den Gesamtaufwand für unsere Konformitätsprüfungen nach EN 301 549.
Fazit: Auch wenn viele Prüfschritte in der EN 301 549 auf der WCAG 2.1 aufbauen, ist mit einer Erfüllung der WCAG-Kriterien noch keine Barrierefreiheit nach der EN 301 549 oder der BITV 2.0 gegeben. Besonders an Technologien mit Zwei-Wege-Sprachkommunikation, eingebundene Videoplayer, benutzerdefinierter Einstellungen und Autorenwerkzeuge sowie an Dokumentation und Support stellt die EN 301 549 eine breitere Palette an Anforderungen, die durch eine Testung von WCAG Erfolgskriterien nicht abgedeckt werden kann. Ähnliche Herausforderungen kommen dann ab 2025 mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) auch auf die deutschen Unternehmen zu.
Ebenso reicht für eine Erfüllung der Anforderungen der BITV 2.0 ggf. nicht die alleinige Testung der EN 301 549 Standard-Prüfkriterien aus. Sollten zentrale Navigations- und Einstiegsangebote oder Angebote, die eine Nutzerinteraktion ermöglichen, auf Barrierefreiheit geprüft werden, ist es notwendig, die AAA-Erfolgskriterien aus dem Abschnitt 9.5 der Norm miteinzubeziehen.
Weiterführende Links
[2] https://www.w3.org/TR/WCAG21/
[4] Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen; Englische Fassung EN 301549 V3.2.1:2021; deutscher Text (E DIN EN 301549:2021-08 Abschnitt 14)
2 Kommentare zu “Barrierefrei nach WCAG 2.1 – oder: Was für die Erfüllung der BITV 2.0 wirklich zählt”