Das Bedürfnis nach einer barrierefreien und inklusiven Umwelt besteht schon lange. Doch obwohl der technische Fortschritt und die Digitalisierung viele Chancen für Menschen mit Behinderungen bieten, sind viele Produkte und Dienstleistungen für diese Zielgruppe noch immer nicht zugänglich.
Dies soll sich mit Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) ändern, das den European Accessibility Act, kurz EAA, in nationales Recht umsetzt. Dies wird unter anderem erhebliche Auswirkungen auf Hersteller, Händler, Importeure und Dienstleister haben. Wie genau das BFSG die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen definiert und auf welche Anforderungen an die Barrierefreiheit besonders zu achten ist, wird im folgenden Beitrag erläutert.
Was sagt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz aus?
Bereits seit 2021 sind öffentliche Stellen dazu verpflichtet, für Webseiten, Anwendungen und mobile Anwendungen Barrierefreiheitsanforderungen einzuhalten [1]. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verpflichtet erstmals auch private Wirtschaftsakteure, Produkte und Dienstleistungen im Geltungsbereich des Gesetzes barrierefrei zu gestalten [2].
Durch das BFSG wird der European Accessability Act in nationales Recht umgesetzt. Dieser verpflichtet alle EU Mitgliedsstaaten dazu, bestimmte Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten [3]. Die bisher nicht einheitlich festgelegten unterschiedlichen Anforderungen an die Barrierefreiheit sollen damit harmonisiert werden, was zur Stärkung der Barrierefreiheit beiträgt. Insgesamt soll das BFSG dazu beitragen, bestehende Barrieren abzubauen, den Binnenmarkt zu harmonisieren und die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken.

Zweck dieses Gesetzes ist es, im Interesse der Verbraucher und Nutzer die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen […] zu gewährleisten. Dadurch wird für Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gestärkt und der Harmonisierung des Binnenmarktes Rechnung getragen.
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, Abschnitt 1 § 1 [4]
Das BFSG wurde im Juli 2021 verkündet und tritt am 28. Juni 2025 in Kraft. Bis dahin müssen alle im Gesetz [2] genannten Produkte und Dienstleistungen barrierefrei sein. Doch wie genau wird Barrierefreiheit im BFSG definiert?
Wie definiert das BFSG Barrierefreiheit?
Für die barrierefreie Gestaltung ist es wichtig zu verstehen, nach welchen Kriterien ein Produkt als barrierefrei gilt. Nach dem BFSG ist ein Produkt barrierefrei, wenn es für Menschen mit Behinderungen auffindbar, zugänglich und nutzbar ist, wobei dies ohne besondere Erschwernis oder fremde Hilfe und über den allgemeinen üblichen Weg ermöglicht werden soll [4].
Die Rolle der harmonisierten Normen
Eine Konformitätsvermutung, d. h. die Vermutung, dass ein Produkt barrierefrei ist, besteht, wenn es den Anforderungen harmonisierter Normen entspricht, die im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht sind. Die EN 301 549 ist eine solche harmonisierte europäische Norm zur digitalen Barrierefreiheit. Mit ihrer Veröffentlichung im Europäischen Amtsblatt im März 2021 gelten die in ihr enthaltenen Anforderungen an die Barrierefreiheit für den öffentlichen Sektor als Standard für Produkte und Dienstleistungen der Informations- und Kommunikationstechnik.
Die Barrierefreiheitsanforderungen der EN 301 549
Sie enthält 137 verschiedene Barrierefreiheitsanforderungen, die in den Abschnitten 5 bis 13 in Prüfschritte unterteilt sind. Ein Produkt gilt erst dann als barrierefrei, wenn alle diese Prüfschritte entweder erfüllt oder auf das Produkt nicht anwendbar sind.
Erst wenn alle Prüfschritte erfüllt oder nicht anwendbar sind, ist die getestete Anwendung barrierefrei.
E DIN EN 301549:2021-08 Abschnitt 14 [5]
Was aber, wenn bestimmte Produkte oder Dienstleistungen nicht vollständig durch Normen abgedeckt werden können? Im BFSG wird dafür im Abschnitt 2 § 5 eine Konformitätsvermutung auf der Grundlage technischer Spezifikationen erwähnt [4].
Die Rolle von technischen Spezifikationen
Danach wird – ähnlich wie bei der Konformitätsvermutung auf der Grundlage harmonisierter Normen – vermutet, dass die Anforderungen an die Barrierefreiheit erfüllt sind, wenn technische Spezifikationen eingehalten werden. Zur Definition dieser Spezifikationen verweist das BFSG in Abschnitt 1 § 2 auf die Verordnung (EU) Nr. 1025/2012. Diese beschreibt technische Spezifikationen als “ein Schriftstück, in dem die technischen Anforderungen dargelegt sind, die ein Produkt, ein Verfahren, eine Dienstleistung oder ein System zu erfüllen hat […]” [6].
Ergebnisse von Normungsarbeiten, die vom DIN nicht als Norm veröffentlicht werden können, werden in technischen Spezifikationen festgehalten und sind damit für die Allgemeinheit nutzbar [7]. Durch die Verwendung von technischen Spezifikationen können Anforderungen an die Barrierefreiheit also auch dann erfüllt werden, wenn noch keine entsprechende Norm vorliegt.
Wie kann barrierefreies Design umgesetzt werden?
Das Thema Barrierefreiheit sollte bei der Entwicklung von Anwendungen von Anfang an berücksichtigt werden. Um Barrieren gar nicht erst entstehen zu lassen, bietet es sich an, bereits in frühen Entwicklungsphasen die Beratung von Expert*innen mit einzubinden.
Je nach Produktart existieren dabei verschiedene Anforderungen, auf die somit frühzeitig eingegangen werden kann. Zudem können bei bereits entwickelten Produkten oder Prototypen bestehende Barrieren identifiziert werden. UUX Expert*innen können hierbei Produkte mittels heuristischer Evaluationen und Usability-Tests auf Barrierefreiheit prüfen und begutachten.
Anschließend werden einzelne Funktionen und Inhalte gegebenenfalls überarbeitet und erneut getestet. Dieser Prozess kann so oft wiederholt werden, bis ein barrierefreies Produkt gewährleistet werden kann.

Eine Orientierung für diesen Prozess kann das Konzept zur Menschzentrierten Gestaltung nach DIN EN ISO 9241-210 bieten [8], wobei ebenfalls Überarbeitungsphasen so oft wiederholt werden, bis eine gute Gebrauchstauglichkeit gewährleistet werden kann.
Die Themen Barrierefreiheit und Gebrauchstauglichkeit haben viele Überschneidungspunkte, wobei Barrierefreiheit als ein Teilaspekt guter Gebrauchstauglichkeit angesehen werden kann. Gleichzeitig kann Gebrauchstauglichkeit jedoch auch als Teilaspekt guter Barrierefreiheit betrachtet werden. Eine gemeinsame Betrachtung von Barrierefreiheit und Gebrauchstauglichkeit wird daher empfohlen.
Gängige Barrieren, die Sie bereits im Vorfeld vermeiden können
Es gibt eine Vielzahl von Barrieren, die uns bei der Begutachtung von Softwareanwendungen immer wieder auffallen. Häufig können diese Barrieren bereits im Vorfeld vermieden werden, was eventuell aufwendige Maßnahmen bei späteren Änderungen erspart. Nachfolgende Aspekte können und sollten daher bereits in der Planungs- und Entwicklungsphase berücksichtigt werden.
Tipp #1: Achten Sie auf flexible Skalierungsmöglichkeiten
Eine Anpassung der Schriftgröße und des Layouts sollte ohne Informations- oder Funktionsverlust möglich sein. Nach der EN 301 459 sollten Texte auf mindestens 200% vergrößert werden können, ohne dass Inhalte verschoben werden oder gar verschwinden.
Aber auch die dynamische Anpassungsfähigkeit des Designs sollte berücksichtigt werden, so dass die Anwendung unabhängig von der Bildschirmausrichtung und damit unabhängig von verschiedenen Geräten umfassend nutzbar ist. Mit einem guten Responsive Design kann eine Webanwendung unabhängig von der Browserfenstergröße genutzt werden, wobei die EN 301 549 hier angibt, dass eine Browserfensterbreite von 320 CSS-Pixeln ohne horizontales Scrollen und eine Browserfensterhöhe von 256 CSS-Pixeln ohne vertikales Scrollen möglich sein sollte.
Insbesondere bei der Gestaltung von tabellarischen Ansichten innerhalb von Webanwendungen treten hier häufig Probleme auf, was letztendlich dazu führen kann, dass entsprechende Inhalte mit assistiven Technologien oder in der einfachen mobilen Ansicht nicht genutzt werden können. Achten Sie daher bereits bei der Planung darauf, wie sich unterschiedliche Ansichten auf die Inhalte innerhalb Ihrer Anwendung auswirken können.
Tipp #2: Vermeiden Sie schwache Kontraste
Besonders für Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit können schwache Kontraste dazu führen, dass relevante Inhalte nicht wahrgenommen werden. Achten Sie daher immer auf ausreichende Helligkeitskontraste.
In Bezug auf die EN 301 459 bedeutet das konkret ein Kontrastverhältnis von mindestens 4,5:1 bei visuellen Darstellungen von Text und Bildern von Text und ein Kontrastverhältnis von mindestens 3:1 bei großen Texten. Das Kontrastverhältnis von 3:1 sollte auch als Maßstab für informationstragende Grafiken, grafische Bedienelemente und den Tastaturfokus gelten. Wenn Sie bestimmte Kontraste in Ihrer Anwendung testen wollen, bietet sich die Nutzung eines Kontrastrechners an.

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband bietet beispielsweise auf der Informationsseite leserlich.info ein hilfreiches Tool an, das Farbkontraste berechnet und gleichzeitig die entsprechende Lesbarkeit von Normal- und Großschrift angibt [9]. Mehr über die Verwendung von Werkzeugen bei der Prüfung der Barrierefreiheit finden Sie auch in unserem Blogbeitrag zu 21 unverzichtbaren UUX Werkzeugen.
Tipp #3: Stellen Sie eine geräteunabhängige Bedienung Ihrer Anwendung sicher
Nicht nur die Darstellung einer Anwendung sollte geräteunabhängig gestaltet sein. Generell sollten alle Inhalte einer Anwendung auch ohne Maus mit der Tastatur erreichbar sein.
Doch die einfache Möglichkeit, sich mit der Tabulatortaste durch alle Inhalte zu klicken, könnte hier unter Umständen nicht ausreichend sein. Weitere Faktoren, wie die Fokusreihenfolge und die Vermeidung von Tastaturfallen müssen ebenfalls berücksichtigt werden.
Außerdem sollte darauf geachtet werden, dass die Tastaturbedienung in verschiedenen Browsern gleichwertig funktioniert.
Tipp #4: Verwenden Sie sinnvolle Alternativtexte
Grafiken oder andere Nicht-Text-Elemente sind für blinde Nutzer*innen oder für Nutzer*innen, die Grafiken beispielsweise für schnellere Ladezeiten abschalten, nicht erreichbar. Deshalb sollten für solche Elemente Alt-Texte korrekt eingesetzt werden, welche bei der Verwendung von assistierenden Technologien zum Einsatz kommen.
So liest beispielsweise ein Sprachassistent beim Vorlesen statt der Grafik den entsprechenden Alt-Text vor. Um Barrierefreiheit zu gewährleisten, reicht es jedoch nicht aus, einfach nur Alt-Texte zur Verfügung zu stellen. Nur wenn die Alt-Texte korrekt und sinnvoll eingesetzt werden, sind sie für den*die Benutzer*in hilfreich. Für informative Grafiken bedeutet dies beispielsweise, dass der Alt-Text die relevanten Informationen vermitteln bzw. den informationstragenden Teil der Grafik beschreiben sollte.
Beschriftungen, wie “Bild-1” sind für die Nutzer*innen meistens nicht hilfreich. Bei Bedienelementen ist es wiederum wichtig, den Zweck und nicht die visuelle Darstellung des Elements zu beschreiben. Beispielsweise würde bei einem Button mit einem Zahnrad im Alt-Text nicht “Zahnrad” sondern “Einstellungen öffnen” stehen.
Insgesamt sollten Alt-Texte nicht zu lange Texte enthalten, um eine gute Bedienbarkeit zu gewährleisten. Nicht-Text-Elemente, die keine informative Funktion haben, benötigen keine Alt-Texte.
Eine digitale Welt für alle!
Mit diesen Tipps können Hersteller bereits viele Barrieren vermeiden und dazu beitragen, dass Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen zugänglich sind. Barrierefreiheit ist ein notwendiger Faktor für ein inklusives Umfeld und wird nun durch klare und einheitliche Standards gefördert.
Das BFSG verpflichtet zur barrierefreien Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen. Technische Spezifikationen und Normen wie die EN 301 549 definieren die Anforderungen, um Barrierefreiheit zu gewährleisten. Regelmäßige Begutachtungen durch Expert*innen helfen, diese Anforderungen zu kontrollieren und damit zu prüfen, ob ein Produkt oder eine Dienstleistung nach dem BFSG barrierefrei ist.
Wir von Nestler UUX Consulting sind darauf spezialisiert, die Barrierefreiheit und Gebrauchstauglichkeit von unternehmensintern verwendeten Softwareanwendungen zu beurteilen und auf Basis von Heuristischen Evaluationen, Usability-Tests, Fokusgruppen, Online Befragungen und Interviews zu begutachten. Gerne stehen wir Ihnen in den verschiedenen Entwicklungsphasen beratend zur Seite.
Weiterführende Links
- [1] https://www.barrierefreiheit-dienstekonsolidierung.bund.de/Webs/PB/DE/gesetze-und-richtlinien/barrierefreiheitsstaerkungsgesetz/barrierefreiheitsstaerkungsgesetz-node.html
- [2] https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/SharedDocs/Downloads/DE/Externe-Veroeffentlichungen/bmas-leitlinien-bfsg.pdf?__blob=publicationFile&v=4
- [3] https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de/DE/Fachwissen/Produkte-und-Dienstleistungen/European-Accessibility-Act/european-accessibility-act_node.html
- [4] https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl121s2970.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl121s2970.pdf%27%5D__1684316610669
- [5] Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen; Englische Fassung EN 301549 V3.2.1:2021; deutscher Text (E DIN EN 301549:2021-08 Abschnitt 14)
- [6] https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2012:316:0012:0033:DE:PDF
- [7] https://www.din.de/de/ueber-normen-und-standards/din-norm/ergebnisse#
- [8] https://germanupa.de/wissen/berufsbild-usability-ux-professional/grundlegend/menschzentrierte-gestaltung
- [9] https://www.leserlich.info/werkzeuge/kontrastrechner/
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